2 August 2024

Alma Klasing

Überlebender des Holocaust

Rede anlässlich des Holocaust-Gedenktages der Sinti und Roma am 2. August 2024

Sehr geehrte Damen und Herren,  

 es ist für mich eine große Ehre, dass ich Ihnen heute – am Europäischen Gedenktag für den Holocaust an den Sinti und Roma – als Vertreterin unserer Überlebenden die Geschichte meiner Familie erzählen darf. Es wühlt mich gleichzeitig aber sehr auf, an diesem Ort zu sein, an dem unserer Minderheit so viel Leid angetan wurde. Vor allem auch, weil ich öffentlich noch nie eine Rede gehalten habe. Aus diesem Grund spreche ich nicht selbst, sondern Alicia Delis liest die Worte, die ich Ihnen gern sagen möchte. Doch wir stehen gemeinsam hier vor Ihnen, um damit das Band zwischen der Generation der Überlebenden und der Generation der Nachgeborenen noch enger zu knüpfen. 

Geboren wurde ich 1937 als Alma Strauß im hessischen Dieburg. Dort hat der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges unsere Familie schon früh auseinandergerissen. Denn mein Vater Bruno Strauß wurde gleich 1939 zur Wehrmacht eingezogen. Meine Mutter, die wie ich Alma hieß, konnte mit mir und meinem jüngeren Bruder Gottfried bei einem Onkel unterkommen, der einen Wanderzirkus betrieb. Meine Eltern hatten zuvor ein Marionettentheater und gemeinsam waren die Familien oft unterwegs, um das Publikum an vielen Orten zu erfreuen. Deshalb kannten wir uns untereinander schon recht gut und für uns Kinder war es schön, wenn wir gemeinsam spielen konnten. Wir verstanden zwar noch nicht alles, was um uns herum geschah, spürten aber, dass sich die Stimmung zusehends verschlechterte.

 Erst wurde bekannt, dass die Geschwister meines Vaters ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. Dann erhielt meine Mutter die Nachricht, dass sie sich am nächsten Tag um 12 Uhr im Rathaus der Stadt zu melden habe, in der wir gerade Station gemacht hatten. „Die wollen uns jetzt auch holen“, war sie überzeugt. Dazu kam es aber nicht. Schon am frühen Morgen nämlich klopften zwei Männer in schwarzen Ledermänteln an unsere Tür und fragten: „Wo ist der Boss?“ Obwohl mein Bruder und ich aus Angst sofort zu weinen anfingen, antwortete meine Mutter geistesgegenwärtig: „Der Boss ist im Krieg und kämpft für das deutsche Vaterland.“ Die beiden zogen danach unverrichteter Dinge ab, für unsere Familie war aber klar, dass die Gefahr der Deportation immer größer wurde. 

 Deshalb haben wir schnell unsere Sachen zusammengepackt und haben uns im Wald versteckt. Das mag wie ein Abenteuer klingen, gerade für uns Kinder. Doch das war es nicht. Wir hatten jede Minute Angst um unser Leben. Wir waren eine Gruppe von etwa zehn Personen, darunter auch mein blinder Großvater. Er hatte im Ersten Weltkrieg an der Front gekämpft und dabei sein Augenlicht verloren. Fortan musste er gemeinsam mit uns unter unmenschlichen Bedingungen in den Wäldern Baden-Württembergs leben. Tagsüber hockten wir uns in Gruben und bedeckten uns mit Laub. Nachts zogen wir weiter und suchten ein anderes Versteck. Das alles musste so geräuschlos wie möglich ablaufen, immer in der Angst vor der Entdeckung und Deportation in die Vernichtungs- und Konzentrationslager. Ernähren konnten wir uns nur von Beeren und anderen essbaren Pflanzen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir irgendwo Hilfe bekommen hätten, ein paar Kleinigkeiten zu essen oder ein kurzfristiges Lager in einer Scheune – Nichts! Aber mit Gottes Hilfe überlebten wir, und auch mein Vater kehrte nach sechs Jahren beim Militär körperlich unversehrt zu uns zurück. 

 Es war ein großes Glück, dass alle nahen Angehörigen die Lager überlebten, aber leider mussten auch wir unter Verwandten und Bekannten etliche Opfer der NS-Rassenpolitik beklagen. Nach der Befreiung durch die Amerikaner hofften wir aber, dass sich unser Leben endlich zum Guten wenden würde. Schnell zogen wir wieder mit dem Wanderzirkus meines Onkels umher – bis zu jenem schrecklichen Unglück, dass sich bis heute in mein Herz eingebrannt hat. Mein Bruder Gottfried, ein talentierter kleiner Artist von sieben Jahren, war noch kurz vor seinem Auftritt mit einem Freund zum Spielen unterwegs, als wir plötzlich eine laute Explosion und Schreie hörten. Sogleich rannten wir hinaus und schnell war klar: Die beiden Jungs hatten eine Handgranate gefunden und mein Bruder hat den Stift gezogen. Er hat nicht überlebt und meine Eltern sind nie wieder mit dem Wanderzirkus umhergezogen. 

 Auch später mussten wir als Sinti in Deutschland viele Demütigungen erdulden. Nicht nur ich hatte in der Schule zu leiden, sondern nachdem ich geheiratet hatte, auch meine drei Söhne. Wir waren fleißig und bemüht, uns eine Existenz aufzubauen, dennoch wurden wir auch weiterhin ausgegrenzt. Auch diese Erfahrungen haben – wie die NS-Zeit – mein späteres Leben geprägt. 

Doch dank des Engagements und des Kampfes der Bürgerrechtsbewegung wurde uns endlich auch eine kleine Entschädigung gewährt und die Diskriminierungen waren nicht mehr täglich zu spüren. Aber jetzt fängt es wieder an. Die Wahlerfolge der rechten Parteien in Deutschland und in vielen Ländern Europas sowie das gewalttätige Auftreten von Neonazis machen mir große Angst. Deshalb möchte ich gerade die Jugend vor diesen falschen Propheten warnen und bitte Euch von ganzem Herzen: Verteidigt unsere Demokratie und schützt uns Minderheiten vor Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus.

Biographie

Alma Klasing kam 1937 zur Welt. Nachdem ihr Vater Bruno Strauß in die Wehrmacht eingezogen worden war, kam sie mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter Alma Strauß bei einem Onkel unter. Als dann die Geschwister ihres Vaters in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden, entschloss sich die Familie, unterzutauchen. Fortan lebte sie unter unmenschlichen Bedingungen in den Wäldern Baden-Württembergs. Tagsüber legten sich die Erwachsenen und Kinder in Gruben und bedeckten sich mit Laub. Nachts zogen sie weiter und suchten ein anderes Versteck. Das alles musste so geräuschlos wie möglich ablaufen, immer in der Angst vor der Entdeckung und Deportation in die Vernichtungs- und Konzentrationslager. Ernähren konnten sie sich nur von Beeren und anderen essbaren Pflanzen. Nach dem Krieg er- fuhr die Familie, dass zumindest die Geschwister des Vaters in Auschwitz überlebt haben, andere Verwandte aber kamen nicht mehr zurück.

Stellungnahmen 2024

Piotr Cywinski

Direktor des Staatlichen Museums und der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau

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Veranstaltung unter der Schirmherrschaft des Europäischen Parlaments

Kofinanziert von der Europäischen Union und kofinanziert und durchgeführt vom Europarat

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