Gruppenbild der eingeladenen Überlebenden mit UN-Generalsekretär Antonio Guterres (m.), Bildrechte: Zentralrat Deutscher Sinti und Roma

26. Januar 2024 

Christian Pfeil

Überlebende des Holocaust

United Nations Holocaust Memorial Ceremony 26. Januar 2024

Sehr geehrter Herr Generalsekretär, 

Sehr geehrte Weltgemeinschaft, Exzellenzen,  

Meine Damen und Herren, 

„Ma schve und schale Latscho Dives“, das ist die Begrüßung auf Romanes, der Sprache von Sinti und Roma.  

Ich bin sehr bewegt, dass ich heute beim Internationalen Gedenktag in Erinnerung an die Opfer des Holocaust als Überlebender und Vertreter von Sinti und Roma vor den Vereinten Nationen sprechen kann. Dies ist ein wichtiges Zeichen der internationalen Anerkennung des „vergessenen Holocaust“ an Sinti und Roma, der über Jahrzehnte hinweg ignoriert und verleugnet wurde und bis heute noch viel zu wenig im Bewusstsein unserer Gesellschaften verankert ist.  

Wir gedenken heute den Verfolgten, Ermordeten und Überlebenden des Holocaust, den 500.000 ermordeten Sinti und Roma und den 6 Millionen ermordeten Juden im NS-besetzten Europa. Der Holocaust war der Höhepunkt eines jahrhundertealten Antiziganismus und Antisemitismus in Deutschland und in Europa, ein industrieller Mord an Menschen nur auf Grund ihrer Abstammung, der akribisch durch die gesamte staatliche Bürokratie umgesetzt wurde.  

Meine Damen und Herren,  

ich bin Holocaust-Überlebender und Sinti aus Deutschland. Bereits im Mai 1940 wurde meine gesamte Familie aus unserem Heimatort Trier in die Lager im deutsch besetzten Polen deportiert, nur weil sie Sinti waren. Meine älteste Schwester Berta war beim Abtransport in die Lager 12, mein jüngster Bruder Ludwig gerade 3 Jahre alt.  

Meine Geschwister haben mir erzählt, dass alle Kinder – auch die ganz jungen – schwere Zwangsarbeit in den Lagern leisten mussten, wie Straßenbau und Schützengräben ausheben. Es gab fast nichts zu essen, Kartoffelschalen waren ein Festessen. Wenn es mal trockenes Brot gab – und es war sehr trocken – wurde es untereinander aufgeteilt. Wir litten während der ganzen Jahre unter großem Hunger und der Angst zu erfrieren oder ermordet zu werden. 

Ich selbst wurde Anfang 1944 im Ghetto Lublin geboren. Meine Mutter musste mich eingewickelt in ein Fetzen Tuch mit zur Arbeit nehmen und in den Wintermonaten neben sich in den Schnee legen.  

Es war ein Wunder, dass ich und meine engste Familie überlebt haben. Auf die Frage wie das möglich war nach fünfeinhalb Jahren lagerhaft, sagten meine Eltern:  

“O Baro Deve un i Debski Dai his pas mende.”  

Gott und die Mutter Gottes waren mit uns. 

Viele meiner nahen Verwandten haben den Holocaust dagegen nicht überlebt.  

Viele wurden in Auschwitz vergast und ermordet. 

Meine Damen und Herren,  

das Ende des Krieges bedeutete für uns Sinti und Roma allerdings nicht das Ende von Ausgrenzung, Erniedrigung und Verfolgung. In den staatlichen Behörden der Bundesrepublik Deutschland trafen Täter, die in der NS-Zeit für die Deportation und Verfolgung unserer Familien verantwortlich waren, die Entscheidung über unsere Entschädigungsanträge. Der Antiziganismus setzte sich bruchlos in Deutschland und in Europa fort und führte zu einer rassistischen Ausgrenzung, ja einer Form der Apartheid gegen die größte Minderheit in vielen europäischen Ländern.  

Nur dank der mutigen Bürgerrechtsbewegung von Sinti und Roma, darunter viele Holocaust Überlebende aber auch nachfolgende Generationen, gelang es unserer Minderheit in den 70er-80er Jahren, die Anerkennung der Nazi-Verbrechen und die Anerkennung als nationale Minderheit zu erkämpfen. Es dauerte vier Jahrzehnte, bis der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt 1982 den Völkermord an Sinti und Roma völkerrechtlich anerkannte. Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bezeichnete im Jahr 2022 diesen Antiziganismus und das fortgesetzte Unrecht gegenüber Sinti und Roma nach 1945 als „Zweite Verfolgung“ und er bat Sinti und Roma um Vergebung.  

Meine Damen und Herren,  

es erfüllt mich mit großer Sorge, wenn ich heute wieder den zunehmenden Nationalismus und Rechtsextremismus in der Welt sehe. Meine Familie und ich mussten erfahren, wozu rassistischer Hass und Gewalt führen. Ich selbst habe in den 90er Jahren zwei rechtsradikale Anschläge auf meine Person und mein Geschäft erlebt.  

Das Vermächtnis der Opfer von Auschwitz ist eine Verpflichtung und Verantwortung für alle Nationen und für die hier versammelte Weltgemeinschaft.  

Es geht nicht nur darum Minderheiten wie Sinti und Roma und Juden zu schützen, es geht darum, dass wir heute – mehr denn je – unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat verteidigen müssen.  

Meine Damen und Herren,  

am 2. August gedenken wir jedes Jahr der letzten 4.300 Sinti und Roma im Deutschen NS-Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, die in dieser Nacht des Jahres 1944 trotz erbittertem Widerstand von der SS ermordet wurden. Das Europäische Parlament erklärte 2015 diesen Tag zum internationalen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma.  

Ich appelliere an alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, den 2. August als internationalen Holocaust Gedenktag für Sinti und Roma anzuerkennen und den diesjährigen 80. Jahrestag in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau würdig zu begehen.  

Ich möchte vor allem junge Menschen weltweit aufrufen, die Erinnerungen von uns Zeitzeugen und das Gedenken in die Zukunft zu tragen. Ich hoffe, dass ihr mit Mut und Engagement für Demokratie und gegen Antiziganismus, Antisemitismus und jede Form von Rassismus eintretet.  

Vielen Dank 

Testimonies of Holocaust Survivors

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Veranstaltung unter der Schirmherrschaft des Europäischen Parlaments

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